Entstehung des Jugendamts
18./19. Jahrhundert
Das ist die Zeit von 1700 bis 1899.
Die Lebensverhältnisse waren deutlichst, wirklich deutlichst anders als zur heutigen Zeit (hier und heute im ersten Quartal des 21. Jahrhunderts).
Zudem waren die Lebensverhältnisse in den deutschen Ländern nicht gleich; d.h. es gab deutlich ärmere und reichere Regionen.
In ärmeren Familien war die Arbeitskraft von Kindern faktisch unentbehrlich. Es gab Armut, die wir uns heute nur noch schwer oder auch gar nicht vorstellen können. Der Tod von Mutter, Vater oder gar beiden bedeutete für Kinder häufig ein sehr schweres Schicksal.
Die sozialen Entwicklungen können hier nur andeutungsweise widergegeben werden. Sie sollen aber dazu anregen, dass man sich einmal ein Bild davon macht, wie sich unsere heutige Gesellschaft daraus entwickelt hat.
Der Hauptarbeitsmarkt war in der Landwirtschaft und im Handwerk. Vorwiegend nur in Städten gab es auch einen Dienstleistungsmarkt. Industrie entwickelte sich erst, bedeutete aber keinesfalls Heil- und Segen. (Zumindest in Deutschland sind wir jetzt im Zeitalter der Deindustrialisierung angelangt.)
Arbeitsschutzgesetze waren ein Fremdwort. Sozialversicherungen, also Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Rentenversicherung gab es nicht. Über den ärztlichen Standard (z.B. Aderlass) oder pharmazeutischen Standard muss ich mich hier nicht auslassen.
Es war ein Leben ohne Waschmaschine, Spülmaschine, Staubsauger, Elektro-Herd, Zentralheizung, etc. Es gab keine Baumwolle, kein Plastik, wenig Metalle, etc. Kleidung bestand aus Leinen, Hanf, Wolle und Leder. Schuhe waren aus Holz oder Leder, jedenfalls ohne Gummisohle. Wasser musste aus Brunnen gepumpt und ins Haus geschafft werden. Der Zeitaufwand, das Leben in einer familiären Gemeinschaft zu gestalten, war ungleich höher als heute. Der Zeitvertreib durch Bücher, Radio, Fernseher, Telefon, etc. war nicht vorhanden. Trotzdem gab es in der damaligen Schickeria (Adel) schon den Gang zum ärztlichen Gesprächspartner auf Grund von unter anderem Langeweile- und Nichtsnutz-Allüren, womit Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts auch die Geburtsstunde der Psychologie und Psychiatrie begründet ist.
Kern aller Herkunft ist immer die Familie. Damit war und ist und bleibt Familie immer der wichtigste Baustein einer Gesellschaft. Ohne funktionierede Familien und ohne funktionierende Familienverhältnisse ist eine Gesellschaft zum Scheitern verurteilt und stirbt auf natürliche Weise aus.
Es gab offen ersichtlich prekäre Verhältnisse, denen mit Waisen- und Armenfürsorge begegenet wurde. Hier waren vorallem die Kirchen tätig. In Waisenhäusern herrschte eine hohe Sterblichkeit. Die Arbeitskraft der Kinder in Waisenhäusern wurde ausgebeutet.
Schon vor der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 gab es in einzelnen Kommunen Bestrebungen zur Fürsorge für Kinder. So wurde zum Beispiel in Hamburg im Jahr 1833 das "Rauhe Haus" gegründet. Durch das preußische Kinderarbeitsschutzgesetz vom 09. März 1839 durften Kinder erst ab neun Jahren in Fabriken, Bergwerken, etc. arbeiten. Zudem wurde eine mindestens drei-jährige Schulpflicht eingeführt.
1871: Deutsches Reich
Zunächst muss man den gesamten Kontext einordnen, denn das Deutsche Reich selbst ist erst 1871 gegründet worden. Dabei handelte es sich nicht um einen einzelnen Akt, sondern um einen Prozess. Erst 1871 war ein deutscher Nationalstaat entstanden. Zuvor waren die deutschen Länder unabhängige Staaten und zum Teil in Bündnissen, jedenfalls kein einheitliches Völkerrechtssubjekt. Das heißt, wenn jemand als Staatsbürger des Großherzogtum Baden ins Königreich Württemberg ging oder ritt oder mit der Kutsche fuhr, begab er sich ins Ausland.
Am 05. Mai 1871 trat rückwirkend zum 01. Januar 1871 die Verfassung des Deutschen Reiches in Kraft. Das Deutsche Reich wird auch als Deutsches Kaiserreich oder als Zweites Deutsches Reich bezeichnet.
Mit dem Deutschen Reich war keine eigene deutsche Staatsbürgerschaft erschaffen worden. Ein Staatsbürger des Großherzogtum Baden blieb Staatsbürger des Großherzogtum Baden, und ein Staatsbürger des Königreich Württemberg blieb Staatsbürger des Königreich Württemberg.
Das Deutsche Reich war ein Bundesstaat in dem das Königreich Preußen klar dominierte. Aber die 25 Einzelstaaten hatten weitreichende eigene Zuständigkeiten.
Kurz abgehakt die Sicht von oben:
- Mit der Verfassung des Deutschen Reiches wird der preußische König der Deutsche Kaiser. Dieser ernennt einen Reichskanzler. Die Aufgabe des Reichskanzlers ist die Reichsleitung; Ministerien gibt es nicht. Zudem übernmmt der Reichskanzler den Vorsitz im Bundesrat.
- Der Reichstag wird von den männlichen Staatsangehörigen der einzelnen deutschen Staaten gewählt und tagt öffentlich. Es gab kein Frauenwahlrecht.
- Der Bundesrat setzt sich aus Migliedern der einzelnen Glied-/Bundesstaaten zusammen und tagt nicht-öffentlich. Der Reichskanzler hat den Vorsitz im Bundesrat.
- Reichsgesetze bedurften der Zustimmung des Reichstags und des Bundesrats.
Damit hatte der Reichskanzler als Einzelperson die größte Einflussmöglichkeit, sprich die größte Macht. Für Details verweise ich auf einschlägige Geschichtsliteratur.
Zwangserziehung
Wie oben schon erwähnt, gab es ab 09. März 1839 das preußische Kinderarbeitsschutzgesetz und eine Schulpflicht. Wer aber glaubt, dass das aus reiner Nächstenliebe entstand, täuscht sich. Preußen war ein Militärstaat. Kinder, die schon sehr früh durch körperliche Anstrengungen ausgebeutet worden waren, waren für das Militär untauglich.
Erziehung in Waisenhäusern, der Armenfürsorge, Besserungsanstalten und Zuchthäusern bedeutete, dass Gehorsam eher mehr als weniger eingeprügelt wurde.
Das Preußische Zwangserziehungsgesetz vom 13. März 1878 ermöglichte es, verwahrloste oder kriminelle Kinder bis zum 12. Lebensalter in Einrichtungen unterzubringen. Damit war die sogenannte Fürsorgeerziehung geboren. Nicht mehr nur kriminelles Verhalten führte zur zwangsweisen Unterbringung, sondern schon auf Grund von Verwahrlosung konnte eine Unterbringung angeordnet werden.
Auch wenn es mit heutigem Gedankengut nicht vereinbar ist, so lag im Preußische Zwangserziehungsgesetz vom 13. März 1878 erstmals eine Gesetzgebung vor, mit der Kinder und Jugendliche einen gesetzlichen Schutz erhielten. Faktisch war die Fürsorgeerziehung noch immer auf Gehorsam geprägt, eben auch mit Mitteln der Gewaltanwendung. Wie der Gesetzestitel schon sagt: Zwangserziehungsgesetz.
Das Preußische Zwangserziehungsgesetz galt aber nicht im gesamten Deutschen Reich. Wie es in den anderen Gliedstaaten aussah, habe ich hier nicht recherchiert. Zumindest im Königreich Bayern gab es ab 10. Mai 1902 das Bayerische Gesetz betreffend die Zwangserziehung.
Mit einer Gesetzgebung institutionalisiert sich dann auch die damit einhergehende Verwaltung.
Wortgewalten
Mit dieser kurzen und knappen Darstellung der Entwicklung wird auch aufgezeigt, wie man Zwangserziehung in ein schöneres Wort einkleidet: Fürsorgeerziehung.
Eben auch damit wird aufgezeigt, dass schon die damaligen (Gliedstaaten-)Gesetzgeber ihren Eingriff in Lebensbereiche zugleich mit schönen Worten rechtfertigten. Die damit einhergehenden Entwicklungen zur tatsächlichen Verbesserung will ich damit nicht klein reden, im Gegenteil: Schon immer gab es Menschen, die sich wirklich sozial engagierten; und die meisten Namen sind heute unbekannt. Die damals vorherrschenden sozialen Probleme in der unmittelbaren Lebenswelt, der Nachbarschaft, durch Findelkinder, Kinderkriminalität auf Grund von Hunger, etc. schürten auch soziale Ängste in den Sippen und Großfamilien, im Hausfrieden, denen man begegnen musste.
Wo der Staat aber eingreift, da will er in der Regel auch immer mehr Macht an sich ziehen, also immer tiefer eingreifen und fast schon bis zum Exzess gestalten:
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Das geht in der Regel nur mit schönen Worten, heute zum Teil verbunden mit dem Aufbau von (Weltuntergangs-)Ängsten vor fehlender (gesetzlicher) Regelung. Eine tatsächliche Vernachlässigung einer notwendigen gesetzlichen Regelung, ebenfalls bewirkt durch schöne Worte, wäre aber nicht weniger fatal. Die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft ist hier aber nicht das Thema; und wir können froh sein, von Kriegen weitgehend verschont zu sein.
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Familie und Staat sind faktisch untrennbar miteinander verwoben. Dabei sind die Rechte der Familie immer weiter beschränkt worden, zum Einen aus Notwendigkeit, zum Anderen aus purer Willkür. Speziell für die Entwicklungen in Europa und in Deutschland ist das ein eigenes Thema, z.B. Einschränkung des Fehderechts (Blutrache oder andere Formen der Selbstjustiz), Königsfriede, Burgfriede, Mainzer Landfriede, Ewiger Landfriede, etc. Andererseits wurden erhebliche Benachteiligungen wie z.B. Sklaverei, Leibeigenschaft, Schuldknechtschaft, Feudalrecht etc. abgeschafft.
Hier ist somit (zu) kurz und knapp eine Entwicklung dargestellt, die immer weitergeht, und der wir uns gerade auch heute zu stellen haben: Der heutige Staat und die heutigen Staatengemeinschaften bieten dazu Möglichkeiten, weil die Verwirklichung zur Einhaltung der Grundrechte aus dem Grundgesetz und u.a. der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht im Zustand der Proklamation verharren dürfen. Zu diesem Thema, wie gut das deutsche Grundgesetz dazu geeignet ist, mache ich noch ein eigenes Kapitel, verweise aber schon hier auf Art. 1 Abs. 2 GG und Art. 25 GG in Verbindung mit u.a. § 36 BeamtStG.
Fazit
Mit dem Preußischem Zwangserziehungsgesetz vom 13. März 1878 und dem Bayerischen Gesetz betreffend die Zwangserziehung vom 10. Mai 1902 wurden Aufgaben für Ämter und Behörden für die Zwangserziehung geschaffen. Insoweit ist das im wesentlichen die Geburtsstunde des Jugendamt unter dem Deckmantel Fürsorge bzw. Fürsorgeerziehung. Damit einher geht auch die staatliche Finanzierung, insoweit die Verteilung von Macht und Gestaltungsraum.
Der Weg zum Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, also einem Gesetz für das gesamte Deutsche Reich war geebnet.
Addendum - Nachtrag
Am 09.12.2024 war ich einmal wieder in der in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. Da ist mir ein Buch in die Hände gefallen, das institutionalisierte Zwangserziehung schon ab dem Jahr 1801 beschreibt. Das werde ich, insoweit ich Zeit und keine anderen Prioritäten habe, weiter recherchieren. Am Fazit ändert das jedoch im Wesentlichen nichts. Für die Entwicklung maßgeblich war das Agieren des Königreich Preußen und die Ausstrahlung auf die anderen Gliedstaaten des Deutschen Reichs.
Stand der Bearbeitung: 16.12.2024